Rennsteiglauf Supermarathon 2021: Höhen und Tiefen eines Ultramarathons

Rund 74 km und 1900 hm bringt der Rennsteiglauf Supermarathon im Thüringer Wald auf die Waage. Doch die tatsächlichen Höhen und Tiefen, die dieser Ultramarathon zwischen Eisenach und Schmiedefeld bereit hält, erlebt jede Läuferin und jeder Läufer anders. Ob es für mich nach einigen mentalen und körperlichen Herausforderungen ein Happy End gab? Lies selbst 🙂

Schlaflos in Eisenach: Start (km -0,5 – 0)

Mein Wecker musste an diesem frühen Oktobermorgen gar nicht klingeln. Nach einer Nacht, in der ich – erwartungsgemäß – einfach keinen Schlaf finden konnte, war ich froh, gegen 04:30 Uhr aus dem Hotelbett und in meine Laufkleidung springen zu können. Mit den Jahren habe ich zum Glück gelernt, mir den Kopf nicht mehr über schlaflose Pre-Race-Nächte zu zerbrechen, sondern dem menschlichen Körper zu vertrauen, der auch ohne Schlaf zu einigem im Stande ist. Zum Beispiel rund 74 km durch den Thüringer Wald zu laufen.

Nach einem Honigbrötchen, einem Glas Wasser und einem Espresso fand ich mich mit einer Handvoll anderer Läuferinnen und Läufer gegen 06:00 Uhr am Marktplatz in Eisenach ein. Traditionell ist der Start des Rennsteiglaufs, vom Halb- bis zum Supermarathon, ein trubeliges Happening. Ein bunter Haufen an Läuferinnen und Läufern aller Ambitions-, Fitness- und Altersklassen kommt zusammen, singt gemeinsam das Rennsteiglied und schunkelt zum Schneewalzer. Noch mehr gute Laune kommt bereits am Vorabend bei der Kloßparty und nach dem Lauf bei der After-Run-Party auf.

Doch nicht so in diesem Jahr. Aufgrund der Corona-Pandemie fielen die Rahmenveranstaltungen aus und der Start des Supermarathons wurde über einen längeren Zeitraum gestreckt. Kleine, fest eingeteilte Startblöcke statt Gedränge, maskengedämpfte Gespräche statt laute Gesänge. Hinzu kam die terminliche Verschiebung vom Mai in den Oktober, sodass der Sonnenaufgang noch vor uns lag.

Ich hatte mir einen Startplatz im allerersten Startblock gesichert, was sich als Fluch und Segen zugleich herausstellen sollte. Auf langsame Läufergruppen würde ich jedenfalls nicht auflaufen. Und wenigstens hatte die nächtliche Warterei auf den Startschuss pünktlich um 06:30 Uhr ein Ende.

Auf zum Großen Inselsberg (km 0-25)

Rennsteiglauf-Supermarathon: Höhenprofil Eisenach bis Inselsberg

Die meisten Läuferinnen und Läufer meines Startblocks zogen in einem Tempo durch Eisenach und den ersten Anstieg in den Wald hinauf, von dem ich mich bewusst nicht mitreißen ließ. Meine Watt- und Herzfrequenzwerte im Blick, versuchte ich, einen ruhigen und nachhaltigen Rhythmus zu finden, was mir an diesem Morgen gar nicht so leicht fiel. „Allein in der Dunkelheit“ beschreibt ganz gut die ersten Kilometer im Wald, die ich mir etwas heller und weniger einsam vorgestellt hatte. Ein merkwürdiges Gefühl, ganz fern von dem gewohnten Feeling einer Laufveranstaltung. In der Stille versuchte ich immer wieder, meine Gedanken einzufangen, die ungewollt auf die vor mir liegende Gesamtstrecke abschweiften – leichtes Panikgefühl inklusive.

Der Weg von Eisenach zum Großen Inselsberg führt moderat, doch fast kontinuierlich bergauf. Auf technisch einfachen Waldwegen gilt es, rund 900 hm auf 25,5 km zu bewältigen. Jedoch stets mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass auf diesen Abschnitt noch knapp 50 km mit 1000 hm folgen. Umso wichtiger ist es, von Anfang an mit seiner Energie hauszuhalten und sich nicht zu einem Tempo hinreißen zu lassen, das sich später böse rächen wird.

Nach einer Weile fand ich meinen Rhythmus. Trotz Anstieg war ich im geplanten Watt- und Herzfrequenzbereich unterwegs, Muskeln und Atem fühlten sich entspannt an. So konnte ich mich in Ruhe meinem Gedankenwirrwarr widmen. Wobei ich natürlich versuchte, mich NICHT in Gedanken darüber zu verlieren, ob ich wirklich fähig war, diese Strecke zu bewältigen. Es wäre mir sicher einfacher gefallen, wenn ich von anderen Läuferinnen und Läufern umgeben gewesen wäre. Doch hatte sich mein Startblock komplett entzerrt und nur sehr selten und wortkarg passierte mich mal ein schnellerer Läufer aus einem späteren Startblock. Gelegentlich klappte es, meinen Fokus auf den Wald, das Morgengrauen oder meinen Atem zu lenken und das Laufen zu genießen. Doch im Großen und Ganzen ging es wild zu in meinem Kopf und die mentale Anstrengung toppte definitiv die körperliche. So war ich fast froh, dass es irgendwann steiler wurde und ich gefordert war, mich mehr aufs Laufen zu konzentrieren.

Nach etwas weniger als zweieinhalb Stunden, und damit voll im Plan, war ich am vorerst höchsten Punkt angekommen. Ein paar tapfere Zuschauer machten Stimmung und mir fiel ein Stein vom Herzen, dass ich diesen verhältnismäßig höhenmeterreichen Abschnitt körperlich so gut gemeistert hatte. Jetzt konnte ich ja gedanklich endlich etwas entspannen… oder?

Höhen und Tiefen bis zum Grenzadler (km 25-54)

Rennsteiglauf-Supermarathon: Höhenprofil Inselsberg bis Grenzadler

Auf den langen Aufstieg folgt zunächst ein steiler, asphaltierter Downhill und dann ein kilometerlanges, gemäßigtes Auf und Ab. Eigentlich genau mein Ding. Doch die Erleichterung über den erreichten „Gipfel“ und die Vorfreude auf die kommende Passage währten nur kurz. Denn zusammen mit der Strecke ging es plötzlich auch mit meinem Kreislauf steil bergab. Völlig aus dem Nichts breitete sich in meinem Magen und Kopf ein unangenehm flaues Gefühl aus. Mit meinem grundsätzlich niedrigen Blutdruck ist mir dieses Gefühl natürlich in bestimmten Situationen wohlbekannt, doch beim Laufen kannte ich es in dieser Form noch nicht.

Als ich realisierte, dass das Gefühl gekommen war, um zu bleiben, folgte ich erstmal dem äußerst hilfreichen Impuls, in Selbstmitleid zu verfallen. Ich sah mich schon mit hochgelegten Beinen am Wegesrand liegen, um mich dann elendig zur nächsten Verpflegungsstelle zu schleppen. Ein DNF des so lang herbeigesehnten Supermarathons nach nicht einmal der Hälfte?

Überaschenderweise kippte ich nicht aus den Latschen. Beine und Herz machten unbeirrt ihren Job. Und nach einigen Kilometern gewann endlich mein rationales Trainerinnen-Ich die Oberhand und wies das Elend in die Schranken. Ging es mir so schlecht, dass ich vom Weiterlaufen langfristige gesundheitliche Schäden davontragen würde? Nein. Hatte ich 16 Wochen lang trainiert, um es nicht mal bis nach Oberhof zu schaffen? Nein. Hatte ich schon alle Möglichkeiten ausgeschöpft, mein Befinden zu verbessern? Nein.

Genau diesen letzten Punkt wollte ich nun angehen. Ich nahm bewusst für eine Weile etwas Tempo raus und rückte die Verpflegung in den Fokus. Mindestens ein Becher gezuckerten Tee und ein Becher Wasser würde ich jetzt an jeder Verpflegungsstelle trinken. Und die süßen bis herzhaften Snacks durchprobieren, um zu schauen, ob irgendetwas half.

Mit sofortiger Wirkung half natürlich nichts. Aber durch den Fokus darauf, wann die nächste Verpflegungsstelle kam und was ich dort in welcher Reihenfolge zu mir nehmen würde, legte sich immerhin das Gedankenkarussell aus Selbstmitleid und Zweifeln. Nachdem ich festgestellt hatte, dass zuckrige Dinge das flaue Gefühl eher verstärkten, brachte schließlich ein halbes Schmalzbrot mit Salz den Durchbruch. Was ich zuvor definitiv mit „Don’t try this on race day“ (bzw. „Don’t try this ever while running“) gelabeled hätte, war plötzlich genau das, was half.

Auch wenn es bei diesem halben Schmalzbrot blieb und ich mich langfristig für einen Mix aus Tee, Wasser, Cola und Salzstangen entschied, kehrten nach einer gefühlten Ewigkeit endlich die Lebensgeister und vor allem die Lauffreude zurück in meinen Körper. Ich war trotz aller Eskapaden meinem zeitlichen Plan mit einem soliden Puffer voraus und hatte keinerlei orthopädische Beschwerden. Die negativen Gedanken der ersten 40 km waren verschwunden und ich war einfach nur voll da, im Hier und Jetzt. Endlich fühlte ich mich wie ich selbst, durch den Wald laufend, in meinem liebsten Habitat und Bewegungszustand.

Mit neuer Kraft und Freude bis zum Ziel (km 54-74)

Rennsteiglauf-Supermarathon: Höhenprofil Grenzadler bis Schmiedefeld

An der Verpflegungsstelle in Oberhof probierte ich endlich auch einmal den sagenumwobenen Rennsteiglauf-Schleim. 1A! Ich entlockte dem Helfer ein angewidertes „Iiih“, als ich danach noch mehr als eine gute Prise Salz in meine Handfläche kippte und abschleckte (ebenfalls 1A, er soll sich nicht so haben). Auf dem Weg zurück in den Wald schlug mir ein fieser Wind entgegen und ich stellte zudem fest, dass mein Plan nicht aufging, von hier bis zum Großen Beerberg eine Runde Power-Musik zu hören (meine AirPods waren wohl die ganze Zeit mit der Laufuhr verbunden gewesen und jetzt leer). Doch irgendetwas in mir sagte nun endlich voller Überzeugung, dass ich es auch mit Wind und ohne Musik ins Ziel schaffen würde.

Ob es am magischen Schleim lag oder an der Aussicht, nur noch 20 km und nach dem Großen Beerberg einige flowige Höhenmeter bergab vor mir zu haben: Ich fühlte mich richtig gut und sammelte auf dem Anstieg sogar ein paar Läufer ein, die mich zu einem früheren Zeitpunkt überholt hatten. Es wäre gelogen zu behaupten, dass es mich inzwischen nicht auch mal hier in der Wade oder dort im Oberschenkel zwickte. Doch verglichen mit den muskulären Schmerzen, die ich bei manch anderen Rennen schon gehabt hatte, waren es Zipperlein, die sich tatsächlich „weglaufen“ ließen. Das umfangreiche Training für den Rennsteiglauf schien meinen Bewegungsapparat also gut vorbereitet zu haben!

Die letzte Zeitmatte auf der Strecke überquerte ich nach 65 km und rund 6:13 Stunden an der Schmücke. Somit sollte mein Ziel, unter 7:30 Stunden zu bleiben, definitiv gesichert sein. Um es nicht auf den letzten Kilometern durch Übermut zu gefährden, heftete ich mich nicht an die Fersen der ersten und einzigen Läuferin, die ich – abgesehen vom Start – während des ganzen Rennens gesehen hatte. Sie überholte mich an der Schmücke, während ich mit den Helfern plauderte. Versetzte Startzeiten machten einen direkten Zweikampf eh sinnlos und außerdem war Konkurrenzdenken in dem Moment das letzte, was mir in den Sinn gekommen wäre.

Stattdessen fühlt man sich nach so einer langen Strecke mehr und mehr zusammengeschweißt mit den Mitlaufenden. So war es für mich selbstverständlich, kurz darauf einen Läufer zu motivieren und mitzuziehen, mit dem ich bei Kilometer 50 einen netten Plausch gehabt hatte, bevor er in flottem Tempo von dannen gezogen war. Nun schien er ein echtes Tief zu haben und war ins Gehen verfallen – so kurz vor dem Ziel und trotz Bergab-Passage. Ich überredete ihn, nicht nachzudenken und sich an meine Fersen zu heften. Wir absolvierten den (zumindest für mich) schönsten Abschnitt des ganzen Laufes, auf dem man einen Skihang querend einen tollen Blick auf Schmiedefeld hat und von zahlreichen Wanderern angefeuert wird. Mein Mitläufer bedankte sich nach ein paar Kilometern fürs Ziehen und ließ sich dann etwas zurückfallen, während ich voller Adrenalin Richtung Ziel rauschte.

Auf die Uhr hatte ich seit der Schmücke nicht mehr geschaut, und so war ich überrascht, wenige hundert Meter vor dem Ziel zu erkennen, dass ich sogar unter 7:00 Stunden bleiben konnte! Die Rechenleistung, wie viel Gas ich dafür genau geben musste, brachte ich nicht mehr zustande (ich hätte einfach im gleichen Tempo weiterlaufen können). Dafür aber einen Zielsprint in 3:50er-Pace, der die Sache fix machte und mich nach 6:59:25 Uhr in das „schönste Ziel der Welt“ einlaufen ließ. What a day!

Ein paar abschließende Gedanken

Es fiel mir gar nicht so leicht, im Nachhinein das „Abenteuer“ Rennsteiglauf Supermarathon – vom Training bis zum Zieleinlauf – in Worte zu fassen. Für mich war es eine schöne, intensive Zeit, gekrönt von einem tollen, persönlichen Erfolgserlebnis. Natürlich lief weder im Training noch am Renntag alles smooth. Eine gute Vorbereitung neben einem Vollzeitjob fordert ein gutes Selbstmanagement und den ein oder anderen Abstrich in der Freizeitgestaltung. Sie hat sich für mich aber nicht nur körperlich ausgezahlt, sondern war auch auf mentaler Ebene eine wichtige Stütze für den Supermarathon. Ohne die Erfahrungen aus den Trainings und die von Tag zu Tag wachsende Verbundenheit mit dem Ziel, diese 74 km auf dem Rennsteig zu finishen, hätte ich meine Leistung wohl nicht so konstant aufrecht erhalten können.

Natürlich gibt es unzählige Personen, die alle paar Wochen einen Ultralauf raushauen und dies auch noch deutlich schneller, höher, weiter tun als ich. Doch für mich war der Rennsteiglauf Supermarathon 2021 ein Lebensereignis, das ich guten Gewissens erstmal so stehen lassen möchte. Noch heute, Monate später, denke ich immer wieder gerne daran zurück, merke, wie ich daran gewachsen bin und erkenne interessante Parallelen zwischen einem Ultralauf(-training) und dem Leben an sich. Wenn das ein Lauf schafft, waren es die Höhen und Tiefen des Weges definitiv wert!


Quellenhinweis: Alle Fotos von Norbert Wilhelmi stammen aus dieser Rennsteiglauf Supermarathon 2021 Fotogalerie.

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